12
Jo wiegte sich hin und her, ohne die Kälte des Fußbodens zu spüren. Die Arme um die Knie geschlungen, weinte sie bitterlich, und ihr Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt. Es dauerte eine Weile, bis sie sich endlich beruhigte und das Zittern nachließ. Der Duft von frischem Hafer und Spreu stieg ihr in die Nase, durchdrang allmählich den Schleier, der sie umgab, und erinnerte sie daran, wo sie sich befand. Für gewöhnlich machte dieser Geruch Jo glücklich, doch im Moment herrschte nichts als abgrundtiefe Düsternis in ihrem Herzen. Ihre Augen brannten, und die Brust war ihr wie zugeschnürt. Als sie etwas Weiches an ihrem Bein spürte, hob sie betrübt den Kopf und betrachtete Puss, die Stallkatze, mit stumpfem Blick. Puss krümmte miauend den Rücken und rieb ihr flauschiges graues Fell an Jos Jeans. Ihre weiße Brust und ihr Bäuchlein leuchteten im Dämmerlicht. Jo wiegte sich weiter hin und her. Doch Puss ließ sich davon nicht abschrecken und sprang auf Jos Knie, wo sie geschickt balancierte und versuchte, sich an Jos Brust zu schmiegen. Dabei miaute sie noch lauter und beharrlicher und sah Jo aus großen grünen Augen eindringlich an. Seufzend hielt Jo inne, und ein trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen.
»Du bist ganz schön hartnäckig«, sagte sie und streichelte die Katze. Sie streckte die Beine aus. Puss hörte sofort auf, sich zu beklagen, und machte es sich, nachdem sie sich dreimal um die eigene Achse gedreht hatte, auf Jos Schoß gemütlich. Dann fing sie laut an zu schnurren und bearbeitete Jos Oberschenkel mit den Krallen. Das tiefe, zufriedene Vibrieren ging durch Jos ganzen Körper. Während Jo, immer wieder bedrückt aufseufzend, die tragische Szene mit ihren Eltern noch einmal Revue passieren ließ, kraulte sie Puss’ weiches Fell. Sie war nicht sicher, was sie mehr gekränkt hatte – der kalte Ausdruck in den Augen ihres Vaters oder die Abwesenheit ihrer Mutter. Lieber hätte sie eine weitere Tirade erduldet, als auf diese Weise weggestoßen zu werden. Sie glaubte einfach nicht, dass ihre Mutter wirklich so hohes Fieber gehabt hatte.
»Das habe ich mir alles selbst eingebrockt, was, Puss?«, meinte sie schließlich. »Und nun bin ich frei und kann bei meinen geliebten Pferden arbeiten. Weshalb weigert Daddy sich, das zu verstehen, Puss? Warum wollen die beiden das einfach nicht einsehen?«
Es schnürte ihr die Kehle zu, und wieder wurden ihre Augen feucht. Ratlos lehnte Jo sich an die Wand und blickte durch den Türspalt hinaus ins Sonnenlicht. Sie war zu erschöpft, um sich weiter das Hirn zu zermartern. Puss bearbeitete sie mit den Pfoten und schnurrte. Nachdem Jo eine Weile stillgehalten hatte, um die zufriedene Katze nicht zu stören, wurde sie unruhig und begann, hin und her zu rutschen. Allmählich schlief ihr der Po ein, und außerdem war der Steinfußboden entsetzlich kalt.
»Nun denn, was geschehen ist, ist geschehen. Das siehst du doch auch so, nicht wahr, Puss? Und da ich jetzt auf mich allein gestellt bin, mache ich mich wohl am besten wieder an die Arbeit«, verkündete sie entschlossen und nahm die Katze zärtlich in die Arme.
Nachdem sie die Wange kurz in das warme, weiche Fell geschmiegt hatte, setzte sie Puss vorsichtig auf den Boden und rappelte sich auf. Während sie sich die Beine vertrat und sich Spreu und Schmutz von den Jeans klopfte, fand die Katze offenbar, dass sie genug geruht hatte, gähnte und trollte sich.
Jo rieb sich das taube Hinterteil, musterte ihr Gesicht in der Spiegelscherbe, die auf einer Bank lag und band sich das Haar zurück. Sie kam zu dem Schluss, dass sie nicht allzu sehr zum Fürchten aussah, und spähte durch den Türspalt hinaus auf den gepflasterten Hof. Von Kurt und den Kollegen fehlte jede Spur. Nur ein schwarzes Pferd mit einer großen weißen Blesse knabberte am Rand seiner Boxentür, und ein Brauner blickte sich neugierig um. Jo kam zu dem Ergebnis, dass sie offenbar nicht gefeuert war, und steuerte auf das Hufgetrappel am anderen Ende des Stalls zu.
Am folgenden Montag teilte Guy sie zu ihrem Erstaunen zur Bahnarbeit ein. Weder er noch Kurt erwähnten den Besuch ihrer Eltern oder den überstürzten Aufbruch. Auch wenn Kurt sich ihr gegenüber freundlich verhielt, spürte Jo, dass sich etwas verändert hatte. So sehr sie auch dagegen ankämpfte, fühlte sie sich in seiner Nähe unwohl. Fragen, die sie früher als harmlos betrachtet hätte, erschienen ihr nun aufdringlich. Ihr Vertrauen in den Stallmeister hatte stark gelitten. Ständig hallten ihr die Worte ihres Vaters in den Ohren, und obwohl sie sich zwang, fröhlich mit Kurt zu plaudern, wuchs ihr Argwohn gegen ihn. Sie achtete sorgsam darauf, die Geheimnisse, die sie als Kind gelernt hatte, für sich zu behalten. Sie wusste jedoch, dass sie ihr Misstrauen überwinden und gegen die Niedergeschlagenheit und Verzweiflung ankämpfen musste, die sie immer wieder zu überwältigen drohten. Um den Schmerz zu betäuben, trieb sie sich zur Arbeit an. Sie war die Erste, die vor Sonnenaufgang in der Dunkelheit in den Ställen eintraf, und die Letzte, die ging, nachdem die Pferde für die Nachtruhe vorbereitet waren. Trotzdem wollte sich Jos Trauer in den nächsten Wochen nicht legen. Nur ihrem Starrsinn und ihrem Stolz hatte sie es zu verdanken, dass sie bei der Stange blieb.
Allmählich wich der Winter dem Frühling. Morgens war es nicht mehr so eisig kalt, und die schwarze Wolke, die Jos Seele überschattete, verzog sich. Winzige gelbe Krokusse wuchsen aus dem gefrorenen Boden, und die ersten Blüten reckten die Köpfchen der Sonne entgegen. Bald schwebte der berauschende Duft von Schneeglöckchen und Hyazinthen durch die Luft, und Jos Herz begann wieder zu singen. Allmählich ordneten sich ihre Gedanken.
An ihren freien Tagen suchte sie die Umgebung nach bewährten und wirksamen Heilkräutern ab, über deren Anwendung sie in der Kingsford Lodge und in Dublin Park etwas gelernt hatte. Ohne auf die schiefen Blicke ihrer Kollegin oder deren Bemerkungen über Hexenbesen, schwarze Katzen und Einhörner zu achten, stellte sie sich eine kleine Auswahl an ätherischen Ölen, Kräuterextrakten und Pulvern zusammen, die sie in einem Verbandskasten unter ihrem Bett aufbewahrte.
Wenn sie frühmorgens durch das Dörflein Stockenham mit seinem mittelalterlichen Marktplatz und den hübschen alten, in Nebel gehüllten Häusern ritt, begrüßte sie Guy mit einem fröhlichen Winken. Und beim Ausritt mit den Pferden auf der Heide fühlte sie sich zum ersten Mal seit Wochen wieder glücklich. Der Wind rötete ihre Wangen, sie spürte die Bewegungen des kräftigen Tieres unter sich und sah den Dampf, der aus seinen Nüstern wölkte, während sein Schnauben über die Heide klang. So kehrte die Begeisterung zurück, die Jo zu Hause in Australien auf dem Rücken eines Pferdes empfunden hatte.
Auf Kurt wirkte der Frühlingsanfang hingegen weniger belebend, und sein Triumphgefühl, die Tochter seines Widersachers Kingsford angeheuert zu haben, verwandelte sich mit der Zeit in wütende Enttäuschung.
»Sie muss gehen. Nachdem ihr Vater ihr so zugesetzt hat, werden wir nichts mehr aus ihr rauskriegen«, knurrte Kurt seinem obersten Jockey Willie Carstairs eines Tages bei der Bahnarbeit zu, während sie zusahen, wie Jo über die Heide preschte. »Zum Teufel mit Charlie.«
»Hm, ich weiß nicht so recht«, erwiderte Carstairs und stocherte zwischen seinen Zähnen herum. Seine wettergegerbten Wangen waren von tiefen Furchen durchzogen. Der nur einen Meter fünfzig große und magere Carstairs ritt seit fünf Jahren für Compton. »Ich würde an deiner Stelle besser aufpassen. Mit Frauen und Pferden ist es immer dasselbe. Man muss nett zu ihnen sein, aber ab und zu die Peitsche zeigen. Dann erfährst du schon, was du wissen willst.« Kurt stieß zwar nur ein mürrisches Brummen hervor, beschloss aber, auf Willies Rat zu hören und nichts zu überstürzen.
Mitte April bekam Jo einen Brief von Emma. Dem Schreiben lag ein Zeitungsausschnitt mit einem Foto bei, auf dem Emma sich auf der Treppe eines Pariser Luxushotels mit einer Modelkollegin buchstäblich in den Haaren lag. »Zickenkrieg der Laufstegköniginnen«, lautete die Schlagzeile.
»Der Wahlspruch, dass schlechte Presse besser ist als gar keine, trifft offenbar zu«, schrieb Emma. »Seit dieser Bericht über mich und Meloney erschienen ist, kann ich mich vor lukrativen Angeboten nicht mehr retten. Mein Agent ist ganz aus dem Häuschen. Übrigens ist Meloney eine blöde Kuh und hatte es verdient, an den Haaren gezogen zu werden, auch wenn die Vortreppe eines der teuersten Hotels von Paris vielleicht nicht der beste Ort dafür ist.«
Der Brief munterte Jo sehr auf. Am Abend nahm sie endlich ihren Mut zusammen und rief Jenny an, um mit Emma zu sprechen. Jenny war so nett zu ihr wie eh und je, was Jos schlechtes Gewissen noch verstärkte. Sie entschuldigte sich mehrmals für ihr Benehmen.
»Sie findet, dass es deine Eltern übertreiben«, vertraute Emma Jo an, nachdem die beiden die letzten Neuigkeiten ausgetauscht hatten. »Ich vermisse dich schrecklich. Du musst mir öfter schreiben, du treulose Tomate.«
»Das sagst ausgerechnet du«, erwiderte Jo lachend. Doch dann verkündete ein dreimaliger Piepton, dass das Telefongeld aufgebraucht war, und sie musste auflegen.
Emmas Zuversicht, ihre gute Laune und ihre respektlose Art fehlten ihr sehr. Aber beim Entladen der Pferde, die gerade vom Rennen in Cheltenham zurückgekehrt waren, aus dem Transporter kam sie zu dem Schluss, dass sie ihre Freundin überhaupt nicht um ihr Leben im Rampenlicht beneidete. Nein, sie hatte ihr Glück gefunden, genau hier im »Schlamm und Dreck«, wie ihre Mutter es genannt hatte. Jo war fest entschlossen, viel länger durchzuhalten als die zugestandenen sechs Monate. Mit federnden Schritten ging sie auf Outsider zu, einen vielversprechenden dreijährigen Wallach, der angebunden in einem der Pferdetransporter stand. Das Pferd, ein Neuzugang, schleuderte den Kopf zurück und wieherte schrill, als Jo sich näherte. Hastig wich sie zurück.
»Bleib weg von ihm«, rief ein Pferdepfleger, während Kurt, gefolgt von einem äußerst besorgten Guy Compton und dem Tierarzt, auf das Tier zueilte. »Er hat sich beim letzten Rennen die Schulter gezerrt. Schon vor der Verletzung war er ziemlich schwierig, doch jetzt machen ihn die Schmerzen bösartig.«
Rasch suchte sich Jo eine andere Aufgabe. Sie spritzte einen der Transporter mit dem Schlauch aus. Trotz des Wasserrauschens hörte sie das Gepolter des Kampfes: Zwei kräftige Stallburschen mussten das Pferd festhalten, damit der Tierarzt es untersuchen konnte. Outsider hatte ein Stockmaß von über einem Meter siebzig, war muskulös und sträubte sich in seiner Angst wie ein Wilder. Jo ließ sich beim Beruhigen einer verschüchterten Jungstute Zeit und beobachtete dabei durch die Gitterstäbe, wie die Männer die Seile immer fester anzogen. Sie hatte Mitleid mit dem mächtigen Pferd, das die Ohren anlegte, die Augen verdrehte, bis das Weiße sichtbar wurde, und sich gegen den Tierarzt wehrte, der ihm eine Spritze geben wollte.
»Halt still, du Mistvieh«, brüllte Kurt und stemmte seinen drahtigen Körper gegen die Seile. Willie Carstairs, der das Pferd bei seiner Verletzung geritten hatte, beobachtete den Kampf. Kurt, der auf einen großen Sieg in zwei Wochen hoffte, legte sich weiter mit finsterer Miene ins Zeug. Endlich gelang es den Männern, das Pferd lange genug ruhig zu halten, damit der Arzt ihm das Schmerzmittel verabreichen konnte. Jo beobachtete, wie Kurt sich anschließend trollte, und sie war überzeugt, dass er sich gerade eine Standpauke von Guy eingehandelt hatte.
Als es später ruhig im Stall war, pirschte Jo sich mit ihrem Verbandskasten zu Outsiders Box und spähte hinein. Sofort legte das Pferd die Ohren an, blähte die Nüstern, wieherte und trat aus. Ohne auf die Drohgebärden des Tieres zu achten, blieb Jo einfach stehen und redete leise auf Outsider ein. Nach einer Weile hörte er auf, in der Box hin und her zu laufen, und musterte Jo eindringlich. Als sie sicher war, dass er sich beruhigt hatte, verteilte sie ein paar Tropfen ätherisches Öl aus ihrem Kasten auf ihren Händen, öffnete vorsichtig die Tür und schlüpfte hinein. Sofort setzte Outsider sich wieder in Bewegung. Jo näherte sich flüsternd dem Pferd und verharrte, scheinbar fasziniert von einem Dunghaufen, in einer Ecke der Box.
Allmählich wurde das Pferd ruhiger und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, Jo zu beäugen, während diese imaginäre Krümel von der Wand pickte. Schließlich siegte die Neugier, und Outsider kam näher, um Jo zu beschnuppern. Langsam hob Jo die Hände und zeigte dem Pferd ihre Handflächen. Outsider schnüffelte an dem Öl. Sein warmer Atem kitzelte auf ihrer Haut. Mit einem lauten Wiehern wandte er den Kopf ab. Jo, die fand, dass dieser Fortschritt für heute genügte, wich weiter flüsternd zur Tür zurück und schlüpfte aus der Box.
Am nächsten Tag waren wieder einige kräftige Männer damit beschäftigt, Outsider zu bändigen, um ihn dem Tierarzt vorzuführen.
»Warum können sie nicht sanfter mit ihm umgehen? Merken sie denn nicht, dass sie es so nur schlimmer machen? Das Tier hat Todesangst«, schrie Jo in der Sattelkammer. Fassungslos musste sie mit ansehen, wie die von ihr erzielten Fortschritte wieder zunichte gemacht wurden. Sie wollte hinlaufen, doch John hielt sie von hinten fest.
»Spinnst du? Oder willst du deinen Job verlieren? Du hast wohl nicht gemerkt, was Kurt heute Morgen für ein Gesicht gezogen hat. Dieses Pferd kostet den Rennstall ein Vermögen, und der Chef hat Kurt die Hölle heißgemacht, weil er bei der Bahnarbeit geschlampt hat. Kurt will, dass das Pferd so schnell wie möglich wieder antritt, und das ist die einzige Möglichkeit.«
»Nein, ist es nicht«, protestierte Jo und riss sich los. »Ich könnte die Schulter sofort wieder hinkriegen, wenn Kurt mich nur lassen würde.«
»Ach, könnten Sie das, Miss Kingsford? Dann verraten Sie mir mal, wie Sie dieses Wunder zustande bringen wollen.«
Jo wirbelte herum und stand vor Guy Compton.
»Mr Compton, darf ich es versuchen? Ich weiß wirklich, wie ich ihm helfen kann«, stieß sie hervor.
»Sie wollen wohl unbedingt im Krankenhaus landen. Nein, Jo, mein Kind, Sie machen einen Bogen um dieses Pferd«, sagte Guy streng. Seine Miene wurde versöhnlicher.
»Nur aus reiner Neugier: Was wollten Sie mit ihm machen?«
»Ich wollte mit ihm sprechen. Und ihn mit Kräutern behandeln. Mein Dad hat mir das gezeigt, als ich acht war«, erwiderte Jo gelassen. »Wir hatten eine wundervolle Stute und rechneten damit, dass sie das Rennen in Oaks gewinnen würde. Doch dann trat sie in ein Loch und zerrte sich die Schulter wie Outsider. Niemand hat geglaubt, dass sie in der Lage sein würde zu starten, aber sie hat es geschafft.«
Guy Compton legte den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen.
»Gespräche und Kräuter«, amüsierte er sich, und seine Augen versanken fast in den gerundeten Wangen. »Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie viel dieses Pferd wert ist? Sprechen und … Ach, die Jugend hält sich für unbesiegbar!«
Schließlich beruhigte er sich wieder. Er zog ein Seidentaschentuch heraus, wischte sich über die Augen, schnäuzte sich und steckte es wieder in die Tasche seiner Reithose. Kurt kam heran, um den Anlass des Heiterkeitsausbruchs zu erkunden.
»Sie meint, sie kann Outsider heilen, indem sie mit ihm spricht«, klärte Guy ihn auf und brach wieder in Gelächter aus.
Jo errötete. Kurt krümmte sich ebenfalls vor Lachen.
»Es funktioniert wirklich. Ich beweise es Ihnen«, flehte Jo.
Kurt hörte auf zu lachen und musterte Jo argwöhnisch.
»Warum geben wir ihr nicht eine Chance, Chef? Reden kann nicht schaden.« Er grinste verschlagen und wandte den Blick ab. »Aber wirklich nur reden.«
»Seien Sie doch kein Narr, Stoltz«, schimpfte Guy. »Das Mädchen könnte sich schwer verletzen oder Outsiders Zustand weiter verschlimmern. Auf gar keinen Fall werde ich erlauben …«
Kurt zupfte an seiner Schirmmütze.
»Wenn sie draußen bleibt und Outsider drinnen, kann nichts passieren, Chef«, unterbrach er.
Guy betrachtete ihn zweifelnd, beruhigte sich aber ein wenig.
»Na gut, in diesem Fall habe ich nichts dagegen. Aber die Box bleibt zu«, fügte er streng hinzu.
»Also, Jo, wollen wir es versuchen? Hast du dir überlegt, was du sagen willst?«, meinte Kurt und nickte Jo feixend zu.
»Gebt mir zwei Sekunden«, jubelte Jo, ohne auf den Seitenhieb zu achten. Sie hastete über den Hof und in die Sattelkammer, und kam mit einem kleinen Plastikeimer voller ätherischer Öle und einigen Stofflappen zurück.
»Darf ich in die Box, wenn er sich beruhigt?«
»Aber klar doch«, antwortete Kurt mit einem vielsagenden Blick auf Guy.
Die drei gingen auf die Box zu. Outsider wieherte empört. Er legte die Ohren an und bleckte wie am Vorabend die Zähne. Dabei sprang er in der Box hin und her und streckte wütend den Kopf nach vorn, um nach Jo und den beiden Männern zu schnappen. Jos Bemühungen blieben vergeblich. Schließlich bat Jo ihre Begleiter verlegen, ein Stück zurückzutreten, aber Guys Geduld war zu Ende.
»Schluss mit diesem Unsinn«, befahl er. »Niemand nähert sich diesem Pferd, ohne dass ich oder Kurt dabei sind.«
Kurt nickte und trollte sich mit einem gehässigen Grinsen. Seiner Meinung nach verstand sich das Mädchen sowieso viel zu gut mit den Comptons.
Guy, der Jos Niedergeschlagenheit bemerkte, betrachtete sie freundlich. Er mochte das Mädchen, und außerdem war die Kleine sehr fleißig.
»Das war eine nette Idee, Jo, aber ich fürchte, die Friede-Freude-Eierkuchen-Methode funktioniert in der Wirklichkeit nicht. Warum kommen Sie nicht morgen zu uns und trinken mit mir und Sally Tee? Sie würde sich sicher über Ihren Besuch freuen. Seit unsere Tochter im Ausland ist, ist sie ein bisschen einsam.«
Jo zwang sich zu einem Lächeln. Ihre Wangen glühten, und sie wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Vielen Dank für die Einladung«, erwiderte sie.
Bitter enttäuscht kehrte sie in die Sattelkammer zurück, verstaute den Eimer wieder in ihrem Spind und griff nach der Heugabel.
»Aber wie sehr sie auch lachen und spotten, ich werde es ihnen zeigen und deine Schulter heilen, Outsider«, flüsterte sie und stieß die Gabel in einen Heuhaufen.
Nach der Arbeit schlich sie sich zurück in den Stall, verrieb ätherisches Öl auf ihren Händen und steckte die Flasche ein. Vorsichtig näherte sie sich Outsiders Box und erstarrte, als er sie beim Öffnen der oberen Klappe mit einem erschrockenen Wiehern empfing. Verstohlen blickte sie sich um, um festzustellen, ob jemand von dem Lärm angelockt worden war, und entdeckte John.
»Gibst du niemals auf?«, fragte er.
Jo legte den Finger an die Lippen. »Pass auf«, flüsterte sie. »Und rühr dich nicht.«
Wieder lief Outsider ängstlich in der Box hin und her, während Jo mucksmäuschenstill abwartete. Wie schon zuvor kam das Pferd nach einer Weile in dem Glauben näher, dass Jo nicht das geringste Interesse an ihm zeigte, und beschnupperte ihre Jacke. Als Jo den Zeitpunkt für gekommen hielt, schlüpfte sie in die Box, wo sie erneut reglos verharrte. Zeit verging. Sie ließ ihre Hand über den Rücken des Pferdes gleiten und schrak im nächsten Moment zusammen. Es hatte sich umgewandt und sie heftig gezwickt. Jo biss sich auf die Lippe und unterdrückte ein Lachen. Sie hatte etwas vergessen.
»Entschuldige, Outsider. Es ist Lavendelöl, so wie beim letzten Mal«, flüsterte sie und hielt dem Pferd die Handflächen hin, damit dieses daran schnuppern konnte. Zufrieden knabberte Outsider an Jos Pullover und ließ sich von ihr streicheln, wie sie es vor seiner Verletzung so oft getan hatte.
»Du Armer, diesmal hast du dir aber ganz schön was eingebrockt«, sagte sie beruhigend.
Langsam strich sie mit der Hand über seinen Rücken, hielt inne, wenn er nervös reagierte, und baute Schritt für Schritt Vertrauen auf. Währenddessen konzentrierte sie sich auf die Reaktion des Pferdes, wenn sie die wunde Stelle erreichen würde. Outsider zuckte zusammen und machte Anstalten, Jo zu beißen. Sofort hielt sie inne und ließ ihre warmen Hände auf dem schimmernden Fell des Pferdes liegen. Outsider stampfte zwar mit dem Huf und schüttelte den Kopf, schnappte aber nicht mehr nach ihr. Jo wartete ab, bis das Pferd bereit war, und begann vorsichtig, den gezerrten Muskel zu massieren. Dabei redete sie leise auf das Tier ein, während ihre Berührung immer fester wurde. Ab und zu benetzte sie ihre Hände erneut mit Öl und ließ Outsider stets daran schnuppern, bevor sie mit der Massage fortfuhr. Dabei hatte sie stets ihren Erfolg vor Augen. Mit der Zeit ging eine Verwandlung in dem Pferd vor. Der Schmerz ließ nach, und der Muskel entspannte sich – genauso, wie sie es vorausgesehen hatte.
»Siehst du, mein Junge«, flüsterte sie, als sie schließlich fertig war. »Morgen machen wir weiter.«
Sie kramte ein Stück Möhre aus der Tasche. Outsider schmiegte die Nüstern an ihre Schulter und pustete ihr warme Luft in den Kragen. Jo fuhr fort, leise mit ihm zu sprechen. Nach einem letzten Streicheln schlüpfte Jo aus der Box und legte den Riegel vor. Sie suchte ihre Öle und Lappen zusammen, bemerkte John und erschrak, denn sie hatte ihn völlig vergessen. John stand da und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
»Bist du immer noch da?«, rief sie.
»Das ist Hexerei«, stammelte John fassungslos. »Mich hätte niemand dazu gebracht, auch nur einen Fuß in diese Box zu setzen.«
»Aber nein, du Dummkopf«, erwiderte Jo, griff nach ihrem Eimer und betrachtete den jungen Mann. »Mein Dad hat mir schon ein paar Dinge beigebracht«, fuhr sie lächelnd fort und eilte zur Sattelkammer.
»Ich bin völlig fertig. Hast du zur Feier des Tages Lust auf ein Gingerale im George & Dragon?«, fragte John, der ihr gefolgt war.
»Gern, vielen Dank. Aber du musst mir versprechen, dass du mit niemandem darüber redest.«
Als am nächsten Tag der Tierarzt erschien, leistete Outsider viel weniger Widerstand. Am späten Nachmittag setzte Jo ihre Arbeit fort. Allerdings merkte sie nicht, dass Kurt sich im Stall versteckt hatte und sie beobachtete.
»Ich habe keine Ahnung, wie sie das anstellt«, raunte er Willie zu, der neben ihm stand. »Vor zwei Tagen konnte sich nicht einmal der Tierarzt an das Pferd heranwagen, geschweige denn ein kleines Mädchen. Und jetzt frisst ihr der Gaul aus der Hand. Er riecht zwar wie ein Blumenladen, aber die Verletzung heilt schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte.«
Ärgerlich runzelte Kurt die Stirn. Es wurmte ihn, dass es ihm nicht gelang, Jo ihr Geheimnis zu entlocken.
»Wenn du mich fragst, hätte sich das Problem so oder so gegeben«, brummte Willie.
Ihm war es gar nicht recht, dass Jo sich an dem Pferd zu schaffen machte, doch seine Kritik hatte ihm vorhin einen Rüffel von Kurt eingebracht.
»Kann sein«, antwortete Kurt zweifelnd.
Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als Jo aus der Box kam, sich die Hände abwischte und den Riegel vorschob. Sie marschierte, ihren Eimer schwenkend und mit federnden Schritten, in die Sattelkammer.
»Sie ist wie ihr Vater«, fuhr Kurt fort und schob die Hände tiefer in die Jackentaschen. »Der macht auch solche Sachen, aber man kriegt nie richtig mit, was eigentlich gespielt wird. Es funktioniert wie Gedankenübertragung. Als würde er dem Pferd etwas erzählen, ohne dabei zu sprechen. Mich macht das ganz nervös. Aber ich werde schon herausfinden, was dahintersteckt.«
Es blieb bei diesem frommen Wunsch. Doch zumindest verhinderte Kurt Jos Besuche bei Outsider nicht, und seine Stimmung besserte sich vorübergehend, als das Pferd tatsächlich in Doncaster starten konnte, Zweiter wurde und ein beträchtliches Preisgeld für das Gestüt gewann.
Jo, die Outsider auf Kurts Betreiben hin während der Reise betreute, vergoss Freudentränen. Die Menge jubelte ihm zu, und sie wurde Zeugin, wie er unter Willie Carstairs eine Nasenlänge hinter Lester Piggott auf Blood Royal ins Ziel kam.
Eine Woche später in Newmarket – Jo suchte gerade unter ihrer Koje in dem gewaltigen Reisetransporter der Comptons nach einem sauberen Paar Socken – hörte sie wider Willen mit, wie Kurt Willie Carstairs befahl, sein Pferd im dritten Rennen zurückzuhalten. Von einem Missverständnis überzeugt, wandte sie den Blick nicht von Nummer sechzehn ab, als der Startschuss zum dritten Rennen fiel. Willie musste sich eigentlich sicher platzieren, wurde aber nur Fünfter.
Zurück in Stockenham Park, sprach Jo mit John über diesen Zwischenfall.
»Das wundert mich nicht. Es wäre nicht das erste Mal. Der Sieger hatte eine ziemlich gute Wettquote«, antwortete John achselzuckend. »Aber das hast du nicht von mir«, fügte er rasch hinzu.
»Bist du sicher? Ich meine, Kurt wird doch nicht … Ich weiß, dass so etwas manchmal vorkommt, aber …« Jo stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.
»Für jemanden, der den Großteil seines Lebens in Rennställen verbracht hat, bist du ziemlich naiv, Jo«, entgegnete John. Da Jo nichts mehr aus ihm herausbekam, verabschiedete sie sich. Allerdings war sie noch nicht überzeugt. Schließlich hatte jedes Rennpferd einen schlechten Tag. Solche Machenschaften konnte sich ein hochkarätiger Rennstall gar nicht leisten. Und aus welchem Grund sollte jemand freiwillig verlieren?
Am nächsten Tag war der Vorfall vergessen. Kurt verkündete, dass Outsider in Ascot starten sollte. Jo würde für ihn verantwortlich sein, auf der Fahrt zur Rennbahn und zurück für sein Wohlergehen sorgen und ihn zwischen den Rennen betreuen.
Jos Aufregung wuchs, je näher der Juni rückte. Inzwischen hatte Outsider sich vollständig von seiner Verletzung erholt und brachte großartige Leistungen. Jo liebte das große, tapfere Pferd und verbrachte so viel Zeit wie möglich mit ihm. Außerdem begeisterte sie die Vorstellung, zum ersten Mal beim Royal Ascot Pferderennen, dem wichtigsten britischen Rennereignis, dabei zu sein.
Endlich war der große Tag da. Ehrfürchtig lauschte Jo von den Ställen aus dem Jubel der Menge beim Eintreffen der königlichen Familie im Stadion. Die Queen, die ein leuchtend gelbes Kleid mit einem passenden breitkrempigen Blumenhut trug, winkte den Zuschauern aus der von den berühmten Windsor-Grauschimmeln gezogenen Kutsche zu, die sie zur königlichen Loge brachte. An ihrer Seite saß Prinz Philip. Die Zuschauertribünen waren brechend voll. Die Frauen trugen Kleider nach der neuesten Mode und balancierten gewagte Hutkreationen auf den Köpfen. Die Männer wirkten in Gehrock und Zylinder nicht minder elegant. Die makellos gepflegten Blumenbeete leuchteten farbenprächtig. Der Himmel war wolkenlos und hellblau. Jos Herz klopfte aufgeregt. Sie war gerade mit dem Striegeln des Pferdes fertig, das Willie am ersten Tag reiten sollte, und hielt es fest, damit Guy den Sattel auflegen konnte.
Am nächsten Tag erlebte Jo etwas sehr Aufregendes. Die Queen blieb auf dem Weg zu ihren eigenen Pferden, die sie vor dem Rennen inspizieren wollte, tatsächlich stehen und sprach sie an. Vor lauter Überraschung vergaß sie, einen Hofknicks zu machen.
Und am letzten Renntag führte Jo endlich Outsider hinaus aufs Feld zu den anderen Teilnehmern. Guy Comptons leuchtend orange-rotes Emblem glänzte auf dem Rücken des Jockeys und der Stadionsprecher verkündete die Lebensdaten des Pferdes. Fast wäre sie geplatzt vor Stolz. Einzig der Reiter trübte ihre Freude, denn sie verabscheute Willie und traute ihm nicht über den Weg. Der Mann hatte stechende Augen und einen bösen Zug um den Mund. Sie musste aber zugeben, dass er ein guter und zuverlässiger Reiter war, der Outsider die nötige Stabilität vermittelte.
Jo, die mit den anderen Pferdepflegern der Comptons im Gegenlicht auf der Tribüne saß, stieß einen Jubelruf aus, als sich die Starttore öffneten und acht Vollblüter die gut anderthalb Kilometer lange Gerade entlangpreschten. Outsider war hoher Favorit und eroberte sich bald die zweite Position, dicht gefolgt vom Pferd der Königin, das Scheuklappen trug. In der zweiten Kurve behauptete Outsider noch immer seine Position, und der Abstand zum Ersten verringerte sich zusehends. Die Pferde bogen auf die Zielgerade. Alle Zuschauer sprangen gleichzeitig auf und feuerten die Reiter aus Leibeskräften an. Jo folgte ihrem Beispiel und musste an einem gewaltigen orangefarbenen Hut vorbeispähen. Sie schrie sich heiser, um Outsider zu noch größerer Leistung anzuspornen. Der Wallach preschte auf den Zielstrich zu und kämpfte um die Führung. Willies Arm mit der Gerte ruderte wie ein Windmühlenflügel, und sein zierlicher Körper wirkte auf dem Rücken des Pferdes winzig. Die Stimme des Stadionsprechers übertönte das Johlen des Publikums.
Gerührt beobachtete Jo, wie ihr heldenhafter Dreijähriger die Geschwindigkeit erhöhte, seinen Rivalen in letzter Sekunde überholte und das Rennen um Kopfeslänge gewann. Die Zuschauer gerieten außer Rand und Band, fielen einander jubelnd in die Arme und warfen Hüte und Programme in die Luft. Gleichzeitig lachend und weinend drängte Jo sich durch die Menge zur Koppel, wo ein verschwitzter, aber triumphierender Willie auf Outsiders Rücken saß und, immer noch außer Atem, Interviews gab. Auf dem dunklen Fell des Pferdes glänzte der Schweiß. Während Guy und Willie den Pokal in Empfang nahmen, führte Jo Outsider zurück in den Stall. Sie liebte dieses wundervolle Pferd von ganzem Herzen.
Jo plauderte freundlich mit dem Tier, spritzte es ab und rieb es trocken. Sie wünschte sich, sie hätte diesen siegreichen Augenblick mit ihrem Vater teilen können. Nachdem sie dem Wallach eine Decke übergeworfen hatte, damit er sich nicht erkältete, ging sie mit ihm auf der kleinen Koppel hinter der Tribüne hin und her, um ihn langsam abzukühlen und ihm die Gelegenheit zum Grasen zu geben.
Seit dem schicksalhaften Tag im Januar hatte sie nichts von Charlie gehört. Jo hatte ihm und ihrer Mutter einige gestelzte Briefe geschrieben, in der Hoffnung, dass sich ihre Wut inzwischen gelegt haben könnte. Ihre Mutter hatte ihr förmlich geantwortet, wie einer entfernten Verwandten. Und während Jo nun mit Outsider ihre Runde machte, fasste sie einen Entschluss: Wenn ihre Eltern ihre Verbitterung nicht überwinden konnten, dann musste sie es eben tun. Sie würde ihnen weiter schreiben, von der Liebe berichten, die sie für Pferde, diese wundervollen Geschöpfe, empfand, und von der Freude erzählen, die ihre Arbeit ihr bereitete. Ohne eine Antwort zu erwarten. Zumindest ihr Vater würde ihre Gefühle sicher verstehen.
So sehr war Jo in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht hörte, wie eine Stimme ihren Namen rief. Erst als sie eine Hand auf der Schulter spürte, fuhr sie herum und starrte überrascht in das Gesicht von Simon Gordon. In seinem grauen Anzug, den Zylinder in der Hand und den Mitgliedsausweis am Revers, sah er einfach hinreißend aus.
»Jo Kingsford, du bist es wirklich! Ich war nicht sicher, als ich dich vorhin mit Guy bei den Ställen bemerkt habe. In dieser Aufmachung siehst du so anders aus.«
»Simon«, jubelte Jo, fiel ihm um den Hals und küsste ihn überschwänglich auf die Wange. Die Zügel hatte sie weiter fest im Griff. »Ist das nicht das tollste Pferd, das du je gesehen hast?«
Sie errötete aufgeregt und lachte, denn Outsider beugte sich besitzergreifend nach vorn und schob die Nase zwischen ihre Gesichter.
»Schon gut, mein Schönster. Der ist besetzt. Du bist der einzige Mann in meinem Leben.«
Sie lehnte sich an Outsider, um ihm den Hals zu kraulen. Als ihr auffiel, wie ihre Äußerung hätte verstanden werden können, errötete sie erneut.
»Ich wusste gar nicht, dass du dich für Pferderennen interessierst«, stammelte sie, strich sich das Haar zurück und wünschte, Simon hätte nicht wieder dieselbe Wirkung auf sie wie damals in Shelsley Manor.
»Das ist nur ein Hobby, obwohl ich mir manchmal überlege, ob es nicht nett wäre, selbst ein Rennpferd zu besitzen«, erwiderte Simon und musterte sie eindringlich.
Jo errötete noch heftiger.
»Wo ist Lelia?«, fragte sie, nur um etwas zu sagen.
Sie fing wieder an, Outsider im Kreis herumzuführen. Ihre Knie waren weich wie Gelee, und sicherlich sah sie schrecklich aus.
»Sie hat ein paar Freunde getroffen«, antwortete Simon und folgte Jo. Sein Pulsschlag beschleunigte sich. »Du siehst toll aus. Wie geht es Emma?« Simon sah Jo an und fand sie unbeschreiblich schön. Ihre Wangen waren gerötet, und die Sonne tauchte ihr Gesicht in einen warmen Schein. »Ich war schon häufig in Ascot, aber heute war es einmalig. In den letzten Sekunden ist das Publikum so außer Rand und Band geraten, dass es sogar die britische Selbstbeherrschung vergessen hat.«
Er lachte. Gleichzeitig fand er die höfliche Konversation mit Jo absurd. Er hätte sie viel lieber in die Arme genommen und ihr Gesicht mit Küssen bedeckt. Dass er trotz seiner Verlobten solchen Fantasien nachhing, trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht. Widerstrebend wandte er den Blick von Jos verführerischen Lippen ab, die ihm – so völlig frei von Lippenstift – sehr begehrenswert erschienen. Simon klopfte sich mit dem Rennprogramm gegen die Handfläche.
»Was ist aus deiner Modelkarriere geworden? Ich hörte, dass du bei Guy und Sally arbeitest, und habe das für ein Gerücht gehalten.«
Jo machte sich noch einmal klar, dass Simon sich nicht im Mindesten für sie interessierte und mit einer anderen Frau verlobt war. Danach gelang es ihr, ein einigermaßen vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen. Bald fachsimpelten sie über Rennpferde und debattierten wie langjährige Freunde angeregt miteinander. Jo hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihr unter seinem Blick ganz warm wurde. Sie hoffte, dass Lelia nicht ausgerechnet jetzt auftauchen würde. Da trafen sich ihre Blicke. Sie sah den Ausdruck in den meergrünen Tiefen seiner Augen und vergaß das oberflächliche Geplauder völlig. Ihr Herz machte einen heftigen Satz.
»Bis jetzt waren Pferderennen für mich nur ein Hobby, aber sie machen mir Spaß, und wenigstens komme ich so einmal aus dem Büro«, gab Simon zu und beobachtete, wie Outsider genüsslich zu grasen begann. »Apropos: Hast du ab und zu auch einmal frei?«
»Nur selten«, antwortete Jo schuldbewusst. »Aber das stört mich nicht. Es ist besser, viel zu arbeiten und seinen Beruf zu lieben, als jede Menge Freizeit und dafür einen Job zu haben, den man hasst.«
Kurz hielt Simon inne und spielte an seinem Rennprogramm herum.
»Ich habe mich gefragt, ob du nicht zu einer kleinen Feier kommen möchtest, die ich nächsten Monat in Norfolk gebe. Meine Tante besitzt ein Häuschen in der Nähe von Fakenham. Wir wollen am Samstag die Rennen in Newmarket besuchen und am Sonntag ein wenig die Gegend erkunden. Es gibt dort ein paar tolle Pubs, wo man gut zu Mittag essen kann. Meinst du, du könntest Guy überreden, dir ein Wochenende freizugeben?«
»Das klingt toll«, antwortete Jo begeistert. Vor Aufregung bekam sie kaum noch Luft.
»Frei wovon, Si, mein Schatz?« Das war Lelias zartes Stimmchen. Sie stakste mit ihren hohen Absätzen, die bei jedem Schritt im Gras einsanken, auf Jo und Simon zu.
Jos Freude verflog schlagartig, und sie setzte eine höfliche und nichtssagende Miene auf. Lelia, die von Kopf bis Fuß in hautenges Babyrosa gewandet war und einen riesigen rosa Hut mit Chiffonwolken und einer großen Satinschleife in der Hand hielt, fiel Simon praktisch in die Arme. Bei einer weniger attraktiven Frau hätte diese Aufmachung lächerlich gewirkt, doch Lelia sah darin nur hinreißend und weiblich aus. Jo war enttäuscht. Sie hatte insgeheim gehofft, dass Simon es mit Lelia vielleicht doch nicht ernst wäre. Aber so viel Schönheit und verführerischer Hilflosigkeit konnte sich wohl kein Mann entziehen. Verglichen mit Lelia fühlte Jo sich schäbig und unscheinbar.
»Pflegen wir Kontakte zum Stallpersonal, Liebling? Hallo, ist das das Pferd, das gerade gewonnen hat?« Lelia nickte kurz in Jos Richtung, hielt inne, und musterte sie forschend. »Kennen wir uns nicht?«
Jo starrte sie nur wortlos an.
»Verdammt, Lelia, verschon uns mit deinen kleinen Spielchen. Du bist Jo im Haus deiner Mutter begegnet und hast drei Tage lang nur über sie geredet«, zischte Simon. Diese unerwartete Antwort verschlug Jo die Sprache.
Lelia schienen im ersten Moment ebenfalls die Worte zu fehlen. Dann jedoch legte sie die Hand vor den Mund und kicherte ganz entzückt.
»Ach du meine Güte, du meinst doch nicht etwa Emmas kleine Modelfreundin?«, sagte sie und fächelte sich mit ihrem Programmheft Kühlung zu. »Hast du ernsthaft erwartet, dass ich sie in diesem Aufzug erkennen würde? Ich meine …«, fügte sie vorwurfsvoll und mit schriller Stimme hinzu und musterte Jos Gesicht. »Du siehst in diesen Sachen ganz anders aus.«
Sie seufzte und unterdrückte die Wut, die in ihr beim Anblick der beiden in vertrautem Gespräch hochgestiegen war.
»In der Modebranche wird zwar mit harten Bandagen gekämpft, aber du warst doch, wenn ich richtig gehört habe, sehr erfolgreich. Gut, nur die Besten kommen durch, aber ich bin sicher, dass du mit ein bisschen Anstrengung …« Sie schenkte Jo ein reizendes Lächeln.
»Ich habe Jo zu unserem Wochenende in Norfolk eingeladen«, verkündete Simon.
»Oh.« Lelia verstummte. »Wie nett. Dann haben wir wenigstens eine gerade Anzahl von Gästen«, sprach sie weiter, als sie den ärgerlichen Ausdruck in Simons Gesicht bemerkte. »Es tut mir leid, dass ich so unhöflich bin, eure kleine Unterhaltung zu stören, aber ich muss Si entführen.«
Sie legte eine Hand mit korallenrot lackierten Fingernägeln besitzergreifend auf Simons Arm und sorgte dafür, dass auch niemand den Verlobungsring mit dem gewaltigen Diamanten übersah.
»Lord und Lady Cleaver würden sich freuen, wenn wir mit ihnen und der königlichen Familie ein Gläschen Champagner trinken. Gut, ich denke, dann sehen wir uns in Norfolk.« Sie lächelte Jo zu. »Sicher wirst du uns gern von deiner Stallarbeit erzählen.«
»Ruf mich an, wenn du weißt, ob du freibekommst«, fügte Simon ein wenig zu hastig hinzu und reichte Jo seine Visitenkarte. »Hoffentlich klappt es.«
Jo durchlief bei der Berührung ihrer Finger ein zarter Schauer. Sie sah in sein Gesicht, und für einen Moment waren Lelia und der Rest der Welt vergessen. Jo spürte seinen eindringlichen Blick und glaubte fast, sie könnte ihm etwas bedeuten. Doch schon meldete die Wirklichkeit sich zurück.
»Ja, wir freuen uns auf deinen Besuch. Ciao«, schrillte Lelia. Dann zerrte sie Simon in Richtung VIP-Loge.
»Wir freuen uns auf deinen Besuch«, äffte Jo sie nach und führte Outsider zum Transporter. »Etwa so wie auf die Beulenpest. Du solltest ein paar Stunden auf deine Stimmbildung verwenden, du blöde Kuh. An diesem wundervollen Wochenende wirst du auf mich verzichten müssen.«
Zornig zerriss sie die Visitenkarte, steckte die Schnipsel ein und fragte sich, wem sie etwas vormachen wollte.
»Komm, Outsider. Bereiten wir alles für die Heimfahrt vor.«
Auch die anderen Pferdepfleger waren damit beschäftigt, Gerätschaften zusammenzupacken und ihre Schützlinge für die Heimreise fertig zu machen.
Es tat so weh.
»Aber es hätte auch nicht geklappt, wenn er nicht verlobt wäre«, dachte Jo niedergeschlagen. Sie legte Outsider eine Decke über und schnallte diese an der Brust und zwischen den Hinterbeinen fest.
Ihre Finger prickelten noch immer von Simons Berührung. Sie und er waren viel zu verschieden, und außerdem verkehrten sie nicht in denselben Kreisen. Bei seinen Freunden wäre sie immer eine Außenseiterin gewesen. Und er schien mit seinem Leben ganz zufrieden zu sein.
Outsider wieherte ungeduldig, drehte sich zu Jo um und stampfte mit dem Hinterhuf auf.
»Du Frechdachs. Du brauchst dir gar nichts einzubilden, ich vergesse dich schon nicht«, meinte sie lächelnd, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Pferd zu.
Nachdem Jo ihn abgedeckt hatte, band sie ihn an seinem Platz im Transporter fest, füllte seinen Futtertrog und fing an, Zaumzeug und Zügel wegzuräumen, die in wirren Haufen auf dem Boden herumlagen. Genüsslich tat Outsider sich an seinem Futter gütlich, schüttelte hin und wieder den Kopf und scharrte mit den Hufen. Jo arbeitete weiter, und die übrigen Pferde wurden ebenfalls aus dem Rennstall der Comptons zur Heimfahrt in den Transporter geführt. Zu guter Letzt holte Jo sich eine braune Papiertüte aus der Fahrerkabine des Wagens und setzte sich auf die Stufen, die den Pferdebereich von den Schlafplätzen der Mitarbeiter trennten. Nachdem sie ein nicht mehr ganz frisches Sandwich aus der Tüte geangelt hatte, starrte sie ins Leere, kaute auf dem Brot herum und dachte dabei an Simon.
»Mein Gott, ich bin so blöd«, murmelte sie ärgerlich und stopfte sich den letzten Bissen in den Mund.
Auf einmal war sie unbeschreiblich müde. Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich in einen Mann zu verlieben, der bald heiraten würde? Doch sie konnte ihre Sehnsucht einfach nicht verdrängen, die sie beim Anblick von Lelia und Simon empfunden hatte – und auch nicht die Leere nach dem Abschied.
»Auch andere Mütter haben schöne Söhne«, hielt sie sich streng vor Augen, nachdem das letzte Pferd vorschriftsmäßig gesichert war. Eingezwängt zwischen zwei Kollegen sitzend, nahm sie die angebotene Coladose entgegen und stimmte entschlossen in die grölenden Siegesgesänge ein, während der Bus quer durch England zurück nach Stockenham Park fuhr.
Endlich wieder in ihrem Zimmer, hatte sie sich von dem Triumphgefühl ihrer Kollegen anstecken lassen. Die Ströme von Champagner, die geflossen waren, nachdem jedes Pferd wieder wohlbehalten in seiner Box stand, hatten ihre Wirkung ebenfalls nicht verfehlt.
Sie redete sich ein, Simon würde auf wundersame Weise plötzlich zur Vernunft kommen. Er würde seinen schweren Fehler erkennen, nach Stockenham Park eilen, sie in die Arme nehmen und ihr ewige Liebe schwören. Mit diesem Gedanken kuschelte sie sich ins Bett und schlief sofort ein.